Mit Werkverzeichnis IV präsentieren wir mit über 100 Filmen eine Übersicht über den Prozess
der Filmarbeit von Alexeij Sagerer, der zu immer neuen filmischen Kompositionen bzw. Qualitäten führt.
Dabei zeigen wir die Entwicklung vom Kinofilm mit "Aumühle" und "Krimi" 1969-73
über verschiedene Qualitäten wie Film-Comics, Film-Ereignisse (Video),
Synchronisatoren und live-film bis zu
Programm Weiss und dem Unmittelbaren Film 2006-16 mit "Reines Trinken - Gottsuche", "Voressen",
"Weisses Fleisch" usw..
Werkverzeichnis IV
Alexeij Sagerer, proT — Filmographie — Übersicht — Chronologische Liste der Filmarbeiten
Die VIDEO-LISTE der proT-homepage
Alexeij Sagerer, proT - chronologische Liste aller Dokus, Videos und Filme auf der proT-homepage
proT Filmproduktionen auf Youtube und andere Präsentationen
Lust auf proT - proTshortcuts auf YouTube
proT-shortcuts auf YouTube sind intensive Film-Ausschnitte von oder mit proT:
Theaterdokumentationen, live-film, Unmittelbarer Film ... oder kurze proT-Filme wie Film-Comics,
Vorfilme, Werbefilme ... Lebendige Präsentation!
proT auf YouTube: proTshortcuts
Inzwischen über 170.000 Views angeführt von den 4 FAVORITES mit je über 10.000 Aufrufen:
Tanz in die Lederhose: 25.854 Views, Vorfilm für Voressen: 17.415 Views,
Frau in Rot: 14.799 Views und Ottfried Fischer hustet Alexeij Sagerer: 10.192 Views.
(Stand 04.02.2025) und siehe auch Rote Wärmflasche tanzt auf Platz 5 mit überraschenden
8189 Aufrufen, Maiandacht mit 7810 Views, Erste Bierrede zur Kunst mit 5287 Views ...
proTshortcuts auf YouTube 1977 bis 2013 Chronologische Liste
Chronologische Liste aller proTshortcuts auf Youtube vom Film-Comics Heimatfilm von 1977
bis zu Ein Gott Eine Frau Ein Dollar 2013.
Präsentation der ersten Filmarbeiten von Alexeij Sagerer
Die vier Filme
KRIMI (1969), Pherachthis (1970),
Romance (1969), Werbefilm für Tieger (1978)
2017 bei UNDERDOX
12. Internationales Filmfestival
LOST & FOUND
ALEXEIJ SAGERER
von Dunja Bialas
Alexeij Sagerer, "Urgestein der Münchner Theatersubversion" (FAZ),
hatte zu Beginn seines Schaffens erste Filme realisiert, was sich durch sein gesamtes
Werk in immer neuen Transformationen hindurchziehen sollte. Mit der "Filmpoesie" ROMANCE (1969)
und dem Gangsterfilm KRIMI (1969), einem "Film über Kino", hatte sich Sagerer einen Platz im
Umkreis des Jungen Deutschen Films (Vlado Kristl, Herbert Achternbusch, Werner Herzog und
Rainer Werner Fassbinder) geschaffen. Sie alle nannte Helmut Schödel 1979 in der ZEIT die
Münchner "Anarcho-Bohème" und hob ihren "Mut zur Unvernunft" hervor.
Mit dem "proT", das Sagerer ab 1969 in München leitete, entwickelte er das post-dramatische,
"unmittelbare" Theater, und revolutionierte die Landschaft des Repräsentationstheaters,
mit weitreichendem Einfluss bis hin zur documenta-Teilnahme 1987 mit der szenischen Skulptur
"Küssende Fernseher". Mit seinen Filmen, die er bis AUMÜHLE (1973) realisierte, erhielt er
die Einladung, dem Filmverlag der Autoren beizutreten. Er nahm Abstand davon, als er im
Kleingedruckten das Blasphemie-Verbot entdeckte. Später, als er sich gegen den klassischen
Film entschieden hatte, wurde er zum Videopionier und integrierte als einer der ersten das
Medium Film ins Theater.
Wie Fassbinder und Achternbusch setzt Sagerer in seinen Filmen eine Sprache ein, die statisch
und gekünstelt wirkt und das Naturalistische der sogenannten Repräsentationssprache meidet.
Es gibt keine Pseudo-Gefühle, keinen Pseudo-Realismus, sondern unmittelbare Dokumentation
(im Sinne des Direct Cinema) oder dokumentierte Handlung (im Geiste des unmittelbaren Theaters),
die bei Sagerer dann auch ins Symbolische hineinreicht. Ohne vordergründige politische Aussage
oder Handlung sind seine Filme so auch politische Filme, die das Unsagbare, Unzeigbare zur
Darstellung bringen, und das im kollektiven Unterbewusstsein Verborgene.
(Dunja Bialas)
sonntag 8 okt 15.00 uhr werkstattkino
KRIMI
BRD 1969 - 35 mm – 35 min
Premiere 2. Dezember 1969
Europa-Filmpalast, München
B: Alexeij Sagerer – K: Lothar Stickelbrucks – S: Lothar Stickelbrucks, Alexeij Sagerer –
M: Maximilian von Berg – P: proT
Mit Guenter Albert, Erwin A. Leitner, Manuela Hollack, Maximilian von Berg, Christopher Price,
Reinhold Nothoff
Film über Kino.
"Gesabberte Wunschwelt, so grotesk wie pervers. Freund leiht Auto von Detektiv. Mit Mädchen
ins Grüne. Überfall. Sexuell stimulierte Brutalitätenkiste: ,Wo Geld, du Schwein?’ Zwist
zwischen Ober- und Untergangstern. Mädchen Wanderpokal. Sagerer benutzt diese primitiven
Elemente kriminalistischer Reißerspannung zu perfiden Entlarvungsspiegelungen des Zuschauerbewusstseins.
Er verpopt Folterblutgesudel mit Schnellpennerkomik, Detektivpose mit gelöcherten Krimileichen.
Das wird am Ende sogar witzig. Ein böser Comicstrip, mit Spruchblasengerede.
Fazit: Über die deformierte Phantasie."
(PONKIE, Abendzeitung, 1969)
PHERACHTHIS
BRD 1970 – 16mm – 13 min
Premiere 12. April 1970
B: Alexeij Sagerer, Jürgen von Hündeberg – K: Axel Hesse - M: Jürgen von Hündeberg
In diesem Film treten nur säurefeste Tintenkannen auf, die früher in Schulen zum tropffreien
Nachfüllen der Tintenfässer in den Schulbänken benutzt wurden. Kein nostalgischer Film.
Nach ihrem Dasein als Tintenkanne ist der Film einer der Höhepunkte in der Kannen-Existenz.
ROMANCE
BRD 1969 – 16mm – 20 min
Premiere 30. November 1969
B: Alexeij Sagerer, Jürgen von Hündeberg – K: Axel Hesse – M: Jürgen von Hündeberg –
Mit George Augusta, Rosemarie Barens
ROMANCE ist der Beginn von Alexeij Sagerers „Kunst- und Musikfilmen“, in die auch
PHERACHTHIS gehört und die später weitergeführt werden mit den Synchronisatoren für das
Nibelungen- & Deutschlandprojekt.
ROMANCE ist reiner Film, reine Bewegung. Der Mann und die Frau stellen nichts dar, ihre
Bewegungen sind nicht von Bedeutung getragen, sie werden produziert. Das Tempo ist extrem
langsam (es sind keine Zeitlupen). Gehen, Drehen, sich abwenden, sich zuwenden, Drehung des
Kopfes, Veränderung des Blickes der Augen ...
Jede filmische Einstellung ist für sich gebaut, die Hintergründe werden immer wieder verändert
– mit Stoffen, mit Materialien, mit Farben. Die Lichtqualität wir immer wieder neu gesetzt:
Weißes Licht, kaltes Licht, gelbes Licht, bewegte Lichtprojektionen usw.
ROMANCE wird anfangs gezeigt als simultaner Gegenraum mit der theatralen Arbeit Die Nashörner
nach Eugène Ionesco, in der die Akteure permanent mit Kannen agieren. Seine Solo-Premiere hat
Romance beim Aktionsabend I am 30. November 1969.
WERBEFILM FÜR TIEGER
BRD 1978 – 35 mm – 1'30''
B: Alexeij Sagerer – K: Sepp Heyne Mit Jürgen von Hündeberg, Cornelie Müller,
Agathe Taffertshofer, Billie Zöckler und Alexeij Sagerer
Der Film wurde 1978 und die folgenden Jahre in Münchner Kinos (z. B. den Leopoldkinos und dem
Studio Isabella) als Werbefilm gezeigt. Für die Theaterproduktionen "Der Tieger von Äschnapur
Eins oder Ich bin die letzte Prinzessin aus Niederbayern", "Der Tieger von Äschnapur Zwei oder
Ich bin das einzige Opfer eines Massenmordes" und "Der Tieger von Äschnapur Drei oder Ich bin
imbrünstig mein Alexeij Sagerer".
Alexeij Sagerer * 1944 in Plattling. Seit 1969 leitete er in München das
proT, mit dem er seit 48 Jahren politisches Theater ohne vordergründig politische Themen realisiert
und das unmittelbare Theater entwickelte. In jüngster Zeit besinnt sich Sagerer wieder auf sein
filmisches Werk, das ab 1973 stets im Zusammenhang mit seinen Theaterproduktionen entstand,
und in dessen Zentrum ab der Jahrtausendwende der unmittelbare Film rückte. 2017 kam sein
Langfilm AUMÜHLE (1973) in restaurierter Fassung zur Wiederaufführung.
Filme Krimi 1969 – Romance 1969 – Pherachthis 1970 – Aumühle 1973 –
Werbefilm Eins 1978 – Werbefilm Zwei 1980 – Musikfilm 1980 – Räume I & II 1980 –
Die Nibelungen am VierVideoTurm 1992 – Der größte Film aller Zeiten 1997ff. – Reine Pornographie 2006 –
Reines Trinken 2008
Originalpräsentation Alexeij Sagerer auf www.underdox-festival.de
UNDERDOX - 12. Internationales Filmfestival
Dokument und Experiment - München 5.-11. Okt 2017
Die Seite ist ein erstes Beispiel für externe Präsentationen von proT-Filmen.
Präsentation Filmemacher Alexeij Sagerer mit Aumühle (1973)
auf artechock, Dunja Bialas: point of view
Aumühle - Filmklassiker von Alexeij Sagerer Premiere 10. November 1973, Cinemonde im Citta 2000, München. Premiere der digitalisierten Fassung am 26. April 2017, Rio Filmpalast, München.
artechock, 20. April 2017, POINT OF VIEW
Porträt Alexeij Sagerer, Filmemacher
Donnerstag, 20. April 2017
Alexeij Sagerer, Filmemacher
Das Münchner Theater-Urgestein erinnert an sein filmisches Werk. Den Auftakt macht Aumühle (1969-73),
ein zeitlos gewordener Klassiker über die Ungeheuerlichkeit
"Beim Hühnerköpfen sitzen zwei Männer da, die graben ein Loch und schmeißen all die Hühner rein und das Loch zu.
Die Hühner werden nicht gegessen, nur begraben. Das hat was Unheimliches. Oder jemand steht neben einer Kuh,
der melkt nicht oder macht sonst was Funktionales mit der Kuh. Daraus entsteht die Frage an das Leben selber:
Das Leben selber ist ungeheuerlich. Diese Frage muss man stellen, und die Frage nach der Einmaligkeit.
Das macht die Kunst. Auf der anderen Seite sind da die Behinderten, die diese Frage auch stellen. Wenn du das
normalisierst, dann kannst du es vergessen." – Alexeij Sagerer über Aumühle
Ein ungeheuerlicher Fall für einen Film
"Aumühle": Dieser Film wurde zum Dreh- und Angelpunkt in Alexeij Sagerers Leben. Gedreht hat er ihn nach einer Meldung,
die er im Jahr 1969 in der Zeitung vorfand. Im niederbayerischen Dorf Aumühle im Passauer Landkreis war ein designiertes
Wohnheim für geistig behinderte Kinder und Jugendliche bei einer Brandstiftung zerstört worden. Der Fall war ein Politikum.
Der Brandstiftung waren Drohbriefe vom Gemeinderat gegen den Eigentümer des Hauses vorangegangen. "Unangenehmes" werde er
erleben, hieß es darin, wenn das Behindertenheim käme. Eine Ortsbegehung des Heimleiters, der mit einer Gruppe von Kindern
nach Aumühle kam, mündete in einer tumultartigen Auseinandersetzung mit den knüppelbewehreten Einwohnern, die Polizei
riet zur unverzüglichen Abreise. Am Abend feierte die Gemeinde, allen voran der Pfarrer, bei Freibier, Lagerfeuer und
Würstel ihren Triumph. Wenig später brannte der Dachstuhl des besagten Hauses. Der Heimleiter, der sofort an Ort und Stelle
war, wurde verprügelt.
Es war eine Vertreibung ganz im Geiste nationalsozialistischer Gesinnung (die Behinderten wurden als Juden beschimpft), und
der Fall kam bundesweit in die Schlagzeilen. Von einem "Mahnmal niederbayrischer, ja nationaler Schande" war
im Oktober 1969 im "Spiegel" zu lesen.
»Das war eine Ungeheuerlichkeit«, erinnert sich Sagerer, und er wollte einen Film dazu machen. Er fuhr in das Dorf, führte
Interviews. Mit dem bigotten Pfarrer und dem Heimleiter. Der Ebene seiner Recherchen fügte er die unkommentierten Bilder
eines Behindertenwohnheims hinzu, die er im Stile des Direct Cinema drehte. Eine dritte und letzte Ebene ergab eine
Spielhandlung, die Sagerer in Art seines damals ganz neuen Prozessionstheaters inszenierte und in der sich auch seine
Verwandtschaft zum OrgienMysterien-Theater des Wiener Aktionskünstlers Hermann Nitsch erkennen lässt. In einer wilden,
aber öden Natur (und somit völlig unbespielten Landschaft fernab des Originalschauplatzes) errichtete er ein stilisierte
Bauernwelt, in der Schauspieler und Tiere eine archaische Handlung lieferten. Diese spielte sich wiederum auf einer
symbolischen, dabei sehr konreten Ebene ab, es wurden Schweine und Hühner geköpft. Auch das war eine Ungeheuerlichkeit,
der Sender ZDF sprang ab.
"Es ging ja nicht um irgendeinen Spendenfilm für Behinderte", erklärt Sagerer, "mir ging's um die Ungeheuerlichkeit, die sich
abgespielt hatte, deshalb köpf ich am Schluss auch diese Schweine." Der Film wurde von der Mäzenin Eva Madelung, einer
BoschErbin, finanziert, die auch Fassbinders zeitgleichen "Liebe ist kälter als der Tod" ermöglichte und auch die Miete für
das proT-Theater zahlte, das Sagerer parallel zu den Dreharbeiten betrieb.
Junger Münchner Film
Bereits vor "Aumühle" hatte Sagerer erste Filme realisiert. Mit der "Filmpoesie" "Romance" (1969) und dem Gangsterfilm
"Kino" (1969), einem "Film über Kino", hatte er sich bereits einen Platz im Umkreis des Jungen Deutschen Films geschaffen.
Er war mit dem Film-Anarchen Vlado Kristl befreundet und beobachtete, wie dieser sich am Ulmer Institut für Filmgestaltung
einen Wettbewerb mit Alexander Kluge um den ersten Abschlussfilm lieferte, und mit Herbert Achternbusch, der im Filmverlag
der Autoren war. Er kannte Werner Herzog und Rainer Werner Fassbinder. Sie alle wurden 1979 von der "Zeit" Münchner
"Anarcho-Bohème" genannt und ihr "Mut zur Unvernunft" hervorgehoben.
Das "proT" ("Prott" gesprochen), das Sagerer ab 1969 leitete, war jedoch nicht die Antwort auf das Anti-Theater von Fassbinder.
Es ist ausbuchstabiert das "Prozessionstheater", in dem er mit seinen post-dramatischen, "unmittelbaren" Theater, wie er es nennt,
die Theaterlandschaft revolutionierte, mit weitreichendem Einfluss bis hin zur documenta-Teilnahme 1987 mit der szenischen Skulptur
"Küssende Fernseher". Bis zur "Aumühle" aber wusste Sagerer noch nicht, für was und ob er sich entscheiden würde. Mit seinen
Filmen erhielt er die Einladung, dem Filmverlag der Autoren beizutreten. Er nahm Abstand davon, als er im Kleingedruckten das
Blasphemie-Verbot entdeckte. Später, als er sich gegen den klassischen Film entschieden hatte, wurde er zum Videopionier und
integrierte als einer der ersten das Medium Film ins Theater.
Fassbinder, Achternbusch, Sagerer: sie alle wirkten gleichzeitig, aber jeder für sich in München, machten Filme und Theater.
Eine Zusammenarbeit schloss sich aus, zu eigen und wirkmächtig war jeder für sich. Dennoch zeigen sich Gemeinsamkeiten: auch bei
Fassbinder und Achternbusch wirkt die Sprache statisch, gekünstelt, gemieden wird das Naturalistische der sogenannten
Repräsentationssprache. Es gibt keine Pseudo-Gefühle, keinen Pseudo-Realismus, sondern unmittelbare Dokumentation
(im Sinne des Direct Cinema) oder dokumentierte Handlung (im Geiste des unmittelbaren Theaters), die bei Sagerer dann auch
ins Symbolische hineinreicht. Ohne vordergründige politische Aussage oder Handlung ist "Aumühle" so auch ein politischer Film.
Er bringt das Unsagbare, Unzeigbare zur Darstellung, das im kollektiven Unterbewusstsein Verborgene. Erzählt wird dabei nicht der
Vorfall, vielmehr offenbart sich das untergründige Monströse. Auch dies ist eine Form von Unmittelbarkeit und eine Entscheidung
gegen die Repräsentation: Nicht erzählt werden, sondern: es passiert.
Nachdem "Aumühle" abgedreht war, ging es an den Schnitt, der die drei Ebenen miteinander verwob. Und dann musste Alexeij Sagerer
wegen einer, sagen wir mal, äußerst dummen Aktion für zwei Jahre ins Gefängnis von Landsberg (die Geschichte steht wunderbar
entblättert in Ralph Hammerthalers sehr empfehlenswerter Biographie "Alexeij Sagerer – liebe mich – wiederhole mich"). Der Film
war noch nicht ganz fertig gestellt, und mit diesem Cliffhanger ging Sagerer in Klausur. Der Knast lehrte ihn Souveränität von
den Institutionen, was ihn Zeit seines Lebens begleiten sollte, außerdem kreativen Anarchismus. Am Ende fällte Sagerer die
Entscheidung fürs postdramatische Theater, nicht für den jungen deutschen Film.
Nach dem Gefängnis stellte Sagerer noch die Tonspur fertig. Es war 1973, vier Jahre nach dem ungeheuerliche Vorfall in
Niederbayern, und der "Spiegel" berichtete vom Freispruch der Beteiligten. "Aumühle" wurde der letzte Kinofilm, den er machte.
Jetzt wurde "Aumühle" bei Arri restauriert und digitalisiert und kommt in dieser neuen Fassung wieder ins Kino. Und es zeigt sich:
Sagerer hat einen zeitlosen Film über das Monströse und Archaische des Menschen geschaffen, das auch heute noch ungeheuerlich
und erschreckend brisant ist.
DUNJA BIALAS
Präsentation 37 Jahre später
bis Jetzt:
Programm Weiss Unmittelbarer Film
Unmittelbarer Film (realisiert auf DV-Tape) ist live-film. Die Entstehungszeit des Films ist
identisch mit der Länge des fertigen Films. Der Film ist der Film im Augenblick seines Entstehens.
Unmittelbarer Film ist gegenüber live-film ein Intensitätssprung. Die theatrale Intensität ist
unabhängig vom Film gedacht und gleichzeitig erscheinen Intensitäten über feste Kamerablicke in den
theatralen Handlungen. Unmittelbarer Film entsteht in und aus einer Produktion, die gleichzeitig
Film- und Theaterproduktion ist, aber Film und Theater kommen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Sie beeinflussen einander. Sie brauchen aber einander nicht zu berücksichtigen. Ein wesentliches
Element des Unmittelbaren Filmes ist der "feste", intensive Kamerablick, in dem sich eine ebenso
intensive theatrale Bewegung, "in einem Stück" entfaltet. Der erste Unmittelbare Film entsteht mit
"Reine Pornografie" (2006) und es folgen "Reines Trinken - Gottsuche" (2008), "Voressen" (2009/10),
"Weisses Fleisch" (2012) und "Liebe mich! Wiederhole mich!" (2016).
Reines Trinken (2008)
Unmittelbarer Film - Programm Weiss - Rausch und Rauschen
Der 8-stündige Unmittelbare Film Reines Trinken - Gottsuche entsteht vom 21. Juni 2008, 21:00 Uhr bis zum 22. Juni 2008, 05:00 Uhr
mit dem Film- und Theaterprojekt Reines Trinken - Gottsuche in einem aufgelassenen Rangierbahnhofgelände und in den
Räumen von "NEULAND - kunst musik bar" in München, in Oppe's Bistro in Floß/Oberpfalz und im Internet.
Trinker und Bedienung Maria: Team Floß, u.a mit Johannes Oppenauer, Richard Hoch und Michael Varga. Frau in sanft
herabfliessendem Wasser: Juliet Willi. Musiker: Sebastiano Tramontana. Stewardessen: Kerstin Becke, Sophie Engert, Vanessa Jeker, Kordula Kink, Elna Lindgens, Berit Menze, Anja Wiener.
Captain: Alexeij Sagerer. Entwicklung des Geländes in München mit Kay Winkler. Realisierung mit Philipp Kolb.
live-Bildschnitt: Christoph Wirsing. live-Filmton-Regie: Andreas Koll. Kamera: Matthias Endriß, Roger Hoidn.
Internet: Walter Ecker, Patrick Gruban. Ein Film von Alexeij Sagerer.
Bei Reines Trinken - Gottsuche geht es um Rausch und Rauschen. Um das Rauschen, das sanfte Rauschen des Wassers und
die nackte Frau in diesem Rauschen und alles ist sehr zerbrechlich die Frau die einfach in diesem Rauschen steht und manchmal
geht sie ein wenig nach hinten in diesem durchsichtigen Haus wackelig geht sie nach hinten und kommt wieder zurück und das
Haus ist eigentlich nur eine dünne Haut und Bögen und es ist hell wenn sie beginnt in diesem warmen Rauschen zu stehen
einfach nur darin zu stehen und alles ist so vergänglich das Haus das bald nur noch Fetzen sein wird durchsichtige Fähnchen
an diesen Rund-Bögen in dieser provisorischen Landschaft mit Wind die in der Nacht verschwindet und doch dableibt und die
Frau steht in diesem Rauschen und in diesem Haus das jetzt leuchtet in der Nacht und bewegt sich nur wenig und lautlos
in diesem Leuchten bis es wieder hell wird und das Leuchten verschwindet und das Haus wieder zu einem Teil dieser
Landschaft wird die eigentlich nur provisorisch ist und da steht die Frau immer noch in diesem warmen Rauschen des Wassers.
Während die Trinker in dieser Zeit des Rauschens öffentlich trinken. Sie sind öffentlich und robust und sie wissen, dass sie
öffentlich sind und das Trinken wird zum Raum und der Raum wird zum Rausch. So wie er kommt. Wie er in die Körper und in die
Welt kommt. Wie er Raum wird. Und sie trinken nur. Stumm. Und dann reden sie natürlich und lachen und tanzen. Und die Komposition
Kneipe, die öffentlich ist, löst sich auf und wird erneut öffentlich und auch das Trinken, das nur Trinken ist, wird erneut
öffentlich und das wissen die Trinker. Und so wird Theater. Und obwohl Gottsuche immer ironisch ist mit und ohne Trinken wird
die Kneipe Kirche. Rausch Raum. Robuster Raum. Vertrauter Raum. Entrückung. Alles wird durchsichtig und ungreifbar. Kind werden.
Öffentlich.
Süddeutsche Zeitung, Dienstag, 24. Juni 2008, Münchner Kultur
Heiliges Bier
"Reines Trinken - Gottsuche" mit Alexeij Sagerer
Dass ein gescheiter Rausch hellsichtig machen kann, wissen Mystiker seit Jahrhunderten. Mit "Reines Trinken - Gottsuche" im Rahmen des Zyklus' "Operation Raumschiff" luden nun Alexeij Sagerer und Kay Winkler zum achtstündigen Trinkmarathon ins Neuland. Von Stewardessen wurde man zunächst in einen Filmraum mit Einzeltrinkkabinen geleitet, wo man 28 Minuten in verwischten Bildern dem Geschehen in einer live zugeschalteten oberpfälzischen Kneipe zuschaute. Dort pflegte eine Tischrunde ausgiebig ein altdeutsches Männerritual: Schweigen vor Biergläsern. Unter fleißigem Einsatz von Schnaps aber lösten sich die Zungen schließlich zu verrauschten Lauten. Zwischendurch flimmerte eine nackte Frau über die Leinwand. Die durfte man eine Stunde später in einer Art Gewächshaus besuchen, wo "Jane-Venus" (Juliet Willi) unter sich kreuzenden Wasserstrahlen badete, ein Anblick reiner Schönheit. Danach geschah erst einmal lange wenig bis nichts.
"Worte bleiben an der Küste", wie die Sufis sagen. Mit Worten also waren Sagerers ozeanische Assoziationsfluten nie zu ergründen. Sein neues Projekt allerdings glich eher einem stillen Teich, auf dem sich angelegentlich eine Welle kräuselte. Gott oder irgendeine Erkenntnis mochte sich nicht zeigen, während die Mitternacht näher rückte.
Doch wie ein Teich seine Geheimnisse nicht dem flüchtigen Betrachter preisgibt, so muss man sich auf die langsamen Veränderungen des eigenen und des Zustands der Akteure einlassen. Sagerers Trinken ist eine ernste Sache, die nicht ohne Grund auf acht Stunden angelegt ist. In dieser Zeit wird das Raumschiff auch erfahrbar als Nucleus eines Ortes, den es bald nicht mehr geben wird, weil Brachen, in denen sich Kreativität breit macht, in München stets vom Aussterben bedroht sind.
In Oppe's Bistro, jener zugeschalteten Kneipe im oberpfälzischen Floß, kommt man langsam voran. Die sechs Trinker, die etwas von ihrem Treiben verstehen, erwachen aus ihrer heiligen Andacht, finden den Knopf der Jukebox und singen fünfstimmig "Guardian Angel"; fünfstimmig deshalb, weil sich einer von ihnen auf das Betrachten des kleinen Ausschnitts der Tischfläche unmittelbar vor sich konzentriert und keinerlei Ablenkung gebrauchen kann. Sagerer kündigt "You do something to me" an, was Sebastiano Tramontana murmelnd intoniert, während er sich mit ein paar wüsten Schlägen auf der Trommel begleitet und überraschend verschwindet. Die Oberpfälzer sind inzwischen bei Strauss' "Zarathustra" angelangt und singen "badambadambdam". Nur Jane bleibt, was sie ist: ein verführerisches Bild von Intimität, die in Wahrheit keine ist, weil Juliet Willi die Anwesenheit der Zuschauer gänzlich ignoriert.
"Reines Trinken" ist ein begehbarer Schöpfungsmythos, die Kantine der Genesis, ein Fest der Schönheit. Im Verschwinden aller zerebraler Niveauunterschiede liegt eine Utopie von einem neuen Menschen, wie ihn Tarzan und Jane oder die Bedienung Maria entstehen lassen könnten. Bis dahin aber ist noch viel zu trinken.
P. HALLMAYER / E. THOLL
Voressen (2010)
Unmittelbarer Film - Programm Weiss - Wandlung und Deformation
Der Unmittelbare Film Voressen entsteht mit dem Film- und Theaterprojekt Voressen
am 12. Juni 2010 von 18:28:00 Uhr bis 19:51:30 Uhr beim Tanz- und Theaterfestival RODEO MÜNCHEN 2010 im Muffatwerk.
Frauen in Weiss: Juliet Willi, Elna Lindgens, Judith Gorgass.
Männer im Lendenschurz: Johannes Oppenauer, Richard Hoch, Michael Varga.
Mann und Frau, Verborgener Raum: Sven Schöcker und Alexandra Hartmann. Essen für Voressen: Vierzig Männer und Frauen.
BühnenKameras: Ilona Herbert, Anja Uhlig, Patrick Gruban. Kamera Verborgener Raum: Alex Endl.
live-Bildschnitt: Christoph Wirsing. live-Filmton-Regie: Oliver Künzner. Tontechnik: Paolo Mariangeli.
Ein Film von Alexeij Sagerer.
Und drei Frauen. Weiss gekleidet. Ganz unterschiedlich. Kommen herein und zerschneiden und zerrupfen das Obst und das Gemüse
und das Fleisch. Und dazwischen füttern sie die Männer. Mit Gabeln und Löffeln und Händen. Und manchmal verbinden sie ihnen
die Augen. Und öffnen Flaschen und Gläser. Und zerreissen Schachteln und andere Verpackungen und wischen mit Servietten den
Männern die Münder. Und drei schwarz gekleidete Kameraleute sind dabei. Auf den roten Aufbauten und filmen. Und das Licht
geht und kommt wieder. Und die Kameraleute verändern ihre Position. Und die Frauen halten inne und dann zerkleinern sie wieder.
Und schenken Bier ein und geben den Männern zu trinken und auch eine rote Suppe und grüne Limonade. Und die Männer sitzen da
und kauen und schlürfen und schlucken. Und wandeln das Zerteilte und das Flüssige das Harte und das Weiche und das Fleischige
und das Trockene in sich selbst. Und sie sind nackt und mit Windeln. Und verschieden und intensiv. Und das ist öffentlich.
Und jeder weiss es. Und das ist Theater. Und das ist Komposition.
Und auf einem vierten roten Podest steht ein grüner Raum. In sich geschlossen. Darin. Eine Frau in weisser Unterwäsche.
Ein Mann in einer Badewanne. Sein nackter Körper bedeckt mit Hostien. Und der Mann bewegt sich. Und die Frau nimmt mit
ihren Lippen die Hostien vom nackten Körper des Mannes. Und isst die Hostien. Und die Hostien werden die Frau. Und die
Hostien sind ein Leib und verschieden. Und auch die Hostien des Rückens sind verschieden. Und die Hostie der Nase und
die Hostie des Schwanzes. Und auch als Oblaten sind sie verschieden. Und hinter dem Leib der Hostien erscheint der
nackte Körper des Mannes. Und obwohl es in dem grünen Raum geschieht ist es öffentlich. Und alle wissen dass es
öffentlich ist. Und ein Kameramann macht Bilder und eine Kamera schickt sie nach draussen. Zu den Bildern der anderen
Kameras auf den roten Podesten. Und ein Film entsteht. Und auf einer Leinwand neben dem grünen Raum läuft der Film.
Süddeutsche Zeitung, Dienstag, 15. Dezember 2009, Münchner Kultur
Im Zeichen der Stoa
Alexeij Sagerers „Voressen“ im Muffatwerk
Was genau tun wir, wenn wir essen? Wir vernichten Ressourcen, feuern unseren Stoffwechsel an, stillen Hunger und Sehnsüchte, wir genießen, würgen hinunter oder zelebrieren eine Mahlzeit, werden dabei sozial oder bleiben ganz pragmatisch. Alexeij Sagerer, dessen theatrales Langzeitprojekt „Operation Raumschiff“ im Dezember 2005 in eine Region vorgestoßen ist, die er „Programm Weiß“ nennt, lässt seitdem vornehmlich „reine“ Phänomene an Bord wie Licht, Berührungen oder das Trinken. In „Voressen“ hat nun der Vorgang der Nahrungsaufnahme an Sagerers Tisch Platz genommen. Genau genommen an drei Tischchen, die von farbenfrohen Lebensmitteln überquellen.
Drei Tarzans in Lendenschurz werden damit von drei Janes in Weiß gefüttert. Drei Kameraleute werfen Detailansichten von klebrigen Bärten, bekleckerten Bäuchen und von mit viel zu großen Messern massakrierten Melonen oder Schweinshaxen auf eine Leinwand, auf der man auch eine Frau sehen kann, die Hostien vom Körper eines nur körperlich anwesenden Mannes nascht. Diese schmerzlichen Bilder fruchtlosen Begehrens stammen live von einem unter grünen Planen verborgenen Raum im Raum, denn anders als viele seiner Vorgänger leiht sich dieser Sagerer-Abend keine Bilder von einem authentischen Anderswo. Alles, was 83 Minuten und 30 Sekunden lang geschieht, ereignet sich auf der Probebühne des Muffatwerks. Und alles ist Essen, Verschlingung, Arbeit und Demut.
Die Männer, die auf ihren erhabenen Stühlen wie Paschas wirken könnten, sitzen stoisch da, wie zu füllende Nahrungssäcke. Die Frauen, sich scheinbar devot kümmernd, sind sachlich Nahrung in Münder einarbeitende Erfüllungsgehilfen eines verborgenen Planes. Worin der besteht? Wer kann das wissen? Gänzlich gereinigt von Bedürfnissen und Emotionen sieht man zum ersten Mal etwas wie „nacktes Essen“. Und die gekonnt unsachgemäße Behandlung der Nahrungsmittel richtet den Fokus so deutlich auf deren Würde, wie es keine Kochshow dieser Welt je könnte.
SABINE LEUCHT
Weisses Fleisch (2012)
Unmittelbarer Film - Programm Weiss - Komposition als Anfang und Ende
Der Unmittelbare Film Weisses Fleisch entsteht mit dem Film- und Theaterprojekt Weisses Fleisch
am 25. Februar 2012 in der Muffathalle in München. Männer auf roter Bühne: Richard Hoch, Michael Varga. Frau im verborgenen schwarzen Raum: Juliet Willi.
live-Bildschnitt: Patrick Gruban. Externe Filmkameras: Ilona Herbert, Anja Uhlig. Kamerabild verborgener Raum: Alexeij Sagerer.
live-Filmton-Regie: Andreas Koll. Tontechnik: Oliver Künzner. Ein Film von Alexeij Sagerer.
Bei Weisses Fleisch geht es um Komposition. Um Komposition als Anfang und Ende. Um Körper. Wandlung und Deformation.
Fleisch. Knochen. Bau. Komposition. Ein Pferdekörper fährt ins Licht. Ohne Fell. Weich. Gabelstapler. Töne. Geräusche.
Der Körper hängt an den Vorderbeinen. An der Gabel. Offen. Der Kopf hängt über dem Hals. Mit Fell. Alles bewegt sich. Zwei
Männer. Schwarz. Eine rote Struktur. Holz. Körper. Bühne. Darauf schwarz ein verborgener Raum. Schmal. Hoch. Ein Mann auf
der Bühne. Messer. Säge. Trennt Körperteile ab. Immer wieder. Deformation. Auflösung. Das Pferd fährt um die rote Bühne.
Stationen. Wandlung. Die wachsende Präsenz der Geräusche. Sechs Körperteile liegen auf der roten Bühne. Der Kopf weiter am
Gabelstapler. Beide Männer auf der Bühne. Die Körperteile werden gehängt. Permanente Komposition.
Und jetzt Weiss. Grundfarbe der Repräsentation. Die Geräusche wiederholt. Verzerrt. Tosend. Die Körperteile werden in
weisse Farbe getaucht. Der Kopf zuletzt. Neukomposition. Weisse Skulpturen hängen über Rot. Im Zentrum der schwarze Raum.
Und gleichzeitig im verborgenen Raum. Schwarz. Rote Farbe in roter Wanne. Davor die Frau. Nackt. Sie beginnt ihren Körper
zu bekleben. Mit weissen Hostien. Und die weissen Hostien bedecken den Körper. Und werden erneut Körper. Und die Frau
steigt in die Wanne mit roter Farbe. Langsam. Und der Körper bekleidet mit den weissen Hostien wird rot. Und die Hostien
werden rot. Und die Frau legt sich in die rote Farbe und taucht darin unter. Und auch der Kopf taucht ein ins Rot.
Deformation und Wandlung. Und alles wird ein Körper. Die weissen Repräsentationskörper und der nackte Körper der Frau und
die rote Farbe. Komposition. Und die Frau steigt wieder aus der Wanne. Und sie ist eine nackte Skulptur. Feucht und rot
glänzend. Und mit roten Fetzen von Hostien auf der Haut.
Süddeutsche Zeitung, Montag, 27. Februar 2012, Kultur
Zerlegt
Alexeij Sagerers Projekt 'Weisses Fleisch' in der Muffathalle
München - 'Weisses Fleisch': Das neue Projekt von Alexeij Sagerer und seinem Prozessionstheater proT ist ein Spiel der Wandlungen. Der Bezugspunkt: Die Transsubstantiationslehre. Danach verwandelt sich während des Abendmahls Brot und Wein in Leib und Blut Christi. Das Sakrament ist eine Frage des Glaubens. Und der Repräsentation. Für gläubige Christen ist Gottes Sohn im Abendmahl real präsent. Für den Rest sind Brot und Wein lediglich Medien der Vergegenwärtigung.
Dies gilt es im Hinterkopf zu haben, wenn man in der Muffathalle zunächst auf ein Video schaut, in dem eine Frau ihren weißen Körper mit Oblaten beklebt. Bis der Panzer fertig ist, und die Frau in eine Wanne mit roter Farbe steigt und so erneut eine andere Gestalt und Form annimmt, dauert es anderthalb Stunden. Währenddessen vollzieht sich auf dem Podest in der Hallenmitte ein Schau-Spiel, das gewöhnungsbedürftig ist und wohl sein soll. Für einen Skandal aber nicht taugt, auch wenn dieser noch kommen mag. Ein ausgeweidetes totes Pferd wird von einem Gabelstapler hereingefahren. Quälend langsam verrinnen nun die Minuten, in denen zwei Performer das Tier zerlegen und die Einzelteile an Ketten in die Höhe ziehen. Man blickt auf rotes Fleisch, die Verwundbarkeit der Kreatur wird sichtbar. Unzählige Mikrofone machen jeden Handgriff auch auditiv erfahrbar.
Sagerer, der Niederbayer, macht seit über dreißig Jahren 'unmittelbares Theater', der Körper spielt darin eine zentrale Rolle. Seine Verletzlichkeit, aber auch seine Schönheit und Würde drohen in einer stetig virtueller werdenden Welt zu verschwinden. 'Zeige deine Wunde' hieß es schon bei Beuys. Am Ende übertünchen die Performer das Fleisch mit weißer Farbe. Frappierend, wie es flugs seine blutige Bedrohlichkeit verliert. Zur Skulptur wird. Diese ließe sich wieder anbeten - in einer Kunstreligion.
FLORIAN WELLE
Liebe mich! Wiederhole mich!
Unmittelbarer Film - Programm Weiss - Sterben und Lebendigkeit
Der Unmittelbare Film Liebe mich! Wiederhole mich! entsteht mit dem Film- und Theaterprojekt Liebe mich! Wiederhole mich! am
24. Februar 2016 im proT auf "Die Säulenhalle", München.
Mann: Johannes Oppenauer. Frau in Weiss mit Schleier: Judith Gorgass.
Frau in Weiss und Rot: Stephanie Felber. Frau in Weiss Kameraperformance: Anja Uhlig.
Live-Bildschnitt: Christoph Wirsing.
Kamera: Ludger Lamers, Anja Uhlig, Alexeij Sagerer. Film-/Raumton-Regie: Philipp Kolb.
Ein Film von Alexeij Sagerer.
Und worum geht es bei Liebe mich! Wiederhole mich!.
Um die Nacktheit. Um das Sterben als fortschreitende Nacktheit und um die Nacktheit als Berührung.
Die Nacktheit und die Berührung als Komposition. Und der Mann berührt sich von innen während er stirbt.
Und der Mann wird nackt von innen während er stirbt. Das Sterben berührt den
Körper von innen und zwar überall. Es ist eine dauernde Bewegung. Milieuwechsel!
Und der Mann weiss, dass er stirbt und dabei von innen heraus nackt wird und
gleichzeitig Teil einer theatralen Komposition ist.
Und er weiss um die nackten Körper der Frauen, die sich berühren und dadurch auch Teil dieser theatralen
Komposition sind. Und der gestorbene Körper ist der nackteste Körper in dieser Komposition.
Und gegenüber die drei Frauen. Sie berühren sich von aussen. Und es sind drei verschiedene Berührungen.
Drei verschiedene Nacktheiten. Und ihre Nacktheiten stellen mit der Nacktheit des Mannes die theatrale
Komposition her. Und es sind drei verschiedene Nacktheiten. Die in den Raum gestellte Nacktheit
der stehenden Frau. Die Nacktheit der Frau, die sich selbst berührt und nur bei sich selbst bleibt,
während sie öffentlich ist. Und die betrachtende Nacktheit der Frau mit der Kamera, die nackt ist
und gleichzeitig die Nacktheit sieht und ebenfalls öffentlich ist und gleichzeitig die theatrale
Komposition herstellt.
Helmut Schödel in:
"Die Lust am anderen Theater - Freie darstellende Künste in München" (S. 29-36)
Publikation des Deutschen Theatermuseums, Henschel 2022, 256 Seiten.
Herausgeberin Dr. Birgit Pargner.
Das Es-ist-was-es-ist-Theater des Alexeij Sagerer
(...)
Sagerers bisher letzter großer Film, der das Sterben seines Freundes Johannes Oppenauer zeigt und gefühlt
fast einen Tabubruch darstellt, wenn man davon hört, ist aber eine seiner ruhigsten Arbeiten und von
großer Gelassenheit.
Oppenauer war schon todkrank, als er eine 18-jährige Frau aus Tschechien heiratete. Sie liebten sich
offenbar tatsächlich. "Diese Liebe war", sagt Sagerer zu seinem Biografen Hammerthaler,
"körperlich wie der Tod". Und so beginnt auch der Film mit der jungen Braut und ihrer Begleitung und hat
von Anfang an etwas Schwebendes, Choreografisches.
Die Wandtapete neben dem Sterbebett zeigt einen Blick auf ein Meer und eine weiße Steintreppe, die
letztlich dorthin führt, wo man auf Erlösung hoffen darf. Aus der Musik und den Geräuschen glaubt
man einen Sturm heraus zu hören oder Tristan-Motive.
Nichts Aufgeregtes hat dieser Film, nichts ist spekulativ. Des Lebens müde dämmert Oppenauer dem
„Großen Schlaf“ entgegen und sein letzter Blick geht in die Richtung der drei Frauen, von denen eine
ihren roten Slip für offenbar abschließende Sexarbeiten immer rauf und runter schiebt.
Durch die Länge und Wiederholung verlieren die Bilder an Schwerkraft.
Sagerer konnte diese Geschichte nicht einfach nüchtern und unmittelbar zu Ende erzählen. Denn in
diesem Film spielt einer die Hauptrolle, den man nicht sieht. Das ist der Tod.
Er holt den Oppenauer und Sagerer findet genial aus seinem Dilemma heraus. Geschickt und bescheiden.
Für die Erlösung eine Tapete. Für die Liebe Klänge einer Tonspur. Für die Vereinigung ein Brautkleid.
Für den Sex die komische Nummer. So können am Schluss auch Eros und Thanatos zufrieden sein mit Sagerer.
(...)
HELMUT SCHÖDEL
Helmut Schödel Das Es-ist-was-es-ist-Theater des Alexeij Sagerer
in: Publikation des Deutschen Theatermuseums "Die Lust am anderen Theater - Freie darstellende Künste in München",
Henschel 2022, 256 Seiten. S. 29-36.
Herausgeberin Dr. Birgit Pargner.
proT auf Vimeo und ZENSUR
Am 24. Februar 2022 zensiert Vimeo die proT-Präsentationsseite: "Alexeij Sagerer auf Vimeo"
(264.520 Views, 1631 Likes).
Auf der "Alexeij Sagerer auf Vimeo"-Seite waren vor allem die proT-Produktionen des Unmittelbaren Films
sowie die Theaterdoku "Siegfrieds Tod" und der Kinofilm "Zahltag der Angst" präsentiert.
Diese proT-Filme sind alle nach wie vor hier auf der
proT-homepage-Seite FILMPRODUKTIONEN,
bzw. "Siegfrieds Tod" bei den THEATERDOKUMENTATIONEN zu erreichen.
SEITEN - ABSPANN
Lust auf proT - proTshortcuts auf YouTube
proT-shortcuts auf YouTube sind intensive Film-Ausschnitte von oder mit proT:
Theaterdokumentationen, live-film, Unmittelbarer Film ... oder kurze proT-Filme wie Film-Comics,
Vorfilme, Werbefilme ... Lebendige Präsentation!
proT auf YouTube: proTshortcuts
Inzwischen über 170.000 Views angeführt von den 4 FAVORITES mit je über 10.000 Aufrufen:
Tanz in die Lederhose: 25.854 Views, Vorfilm für Voressen: 17.415 Views,
Frau in Rot: 14.799 Views und Ottfried Fischer hustet Alexeij Sagerer: 10.192 Views.
(Stand 04.02.2025) und siehe auch Rote Wärmflasche tanzt auf Platz 5 mit überraschenden
8189 Aufrufen, Maiandacht mit 7810 Views, Erste Bierrede zur Kunst mit 5287 Views ...