birth of nature, Geister-Raum-Schiffe
 
Denker-Texte
 
3. Fase
Ungleich + Unmittelbares Theater

 

Denker C: Dr. Sibylle Peters, Theaterwissenschaft, Hamburg / Basel
Denker A: Dr. Thomas Kisser, Philosophie, München
Denker D: Prof. Dr. Ulrike Landfester, Germanistik, Frankfurt am Main
Denker B: Prof. Dr. Günter Zöller, Philosophie, München
 
Denker C spricht 21 Minuten.
 

 
Sibylle Peters
 
Die Oration von Nichts - der Vortrag als Performance
 
Eine Person, die zu einem Publikum spricht, kann ein Politiker sein, der sich an das Parlament wendet, ein Richter, der sein Urteil verkündet, ein Prophet oder ein Priester, der zur Gemeinde spricht, ein Festredner, eine Geschichtenerzählerin. All dies sind ehrwürdige Institute der öffentlichen Rede, die nach jeweils eigenen, ebenso einfachen wie komplexen regeln verfahren. Sie alle bilden eine spezifische Struktur der Repräsentation aus. Das Sprechen im Namen Gottes, des Volkes, des Staates, und vielleicht kann schon deshalb jedes dieser Institute mit dem paradoxen Begriff des unmittelbaren Theaters belegt werden. Sie werden es bemerkt haben, zumindest ein Format der öffentlichen Rede fehlte in meiner Aufzählung, dasjenige nämlich, dessen Selbstverständlichkeiten am heutigen Abend ungleich gesetzt sind, durch diesen Rahmenwechsel auf die Probe gestellt werden, das des wissenschaftlichen Vortrags. Was für Verfahren, was für Selbstverständlichkeiten den Vortrag als unmittelbares Theater des Wissens ausmachen und wie sie sich entwickelt haben, wird heute mein Thema sein.
Unter den genannten Instituten der Rede ist der wissenschaftliche Vortrag das jüngste. Obwohl er seine Vorläufer hat, ist er in seiner heutigen Form ein Produkt der Neuzeit, ist gleich ursprünglich mit den Humanwissenschaften, die ihrerseits nicht denkbar wären ohne das ‚professer', das öffentliche Erklären, das sich Bekennen zur Wahrheit. Der moderne wissenschaftliche - und das heißt zunächst philosophische - Vortrag entsteht in der Durchdringung zweier Diskurse. Auf der einen Seite stehen dabei die Traditionen der Rhetorik, auf der anderen Seite die von Descartes neu begründete Philosophie des denkenden Subjekts. Das durchaus szenische Prinzip dieser Philosophie basiert auf einer Komplikation der Beziehung zwischen Ich und Welt. Das Subjekt des Descartes repräsentiert sich die Welt in einem Vorstellungsraum, der es erlaubt, alles in Frage zu stellen und Wahrheit allein aus der Selbstbeobachtung der Vernunft abzuleiten. Inder Meditatio ganz nach Innen gerichtet, schaut sich die Vernunft selbst beim Denken zu und leitet aus dieser szenischen Differenz ihre Beziehung zur Welt ab. Aus der Kombination von Subjektphilosophie und rhetorischer Tradition entsteht zu Beginn des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum das, was zunächst unter dem Namen der "philosophischen Oratorie" firmiert. Bekanntlich besteht die Rhetorik aus fünf Teilen: der inventio (Erfindung), der dispositio (Anordnung der Redeteile), der elocutio (Ausarbeitung der Rede), der memoria (Gedächtnisleistung) und der actio, der rednerischen Praxis selbst.
Die philosophische Oratorie identifiziert nun die ersten dieser drei Teile sehr stark mit der cartesianischen Meditatio. Sie wendet sich damit gegen eine Bestimmung der Rhetorik als Kunst privat-politische Belange elegant und eloquent zu verfolgen und zu vertreten. In der Einleitung zu seiner philosophischen Oratorie von 1724 schreibt Johann Andreas Fabricius: "Der besondere Endzweck der Beredsamkeit aber ist, durch geschickten Ausdruck seiner Gedanken in anderen eben die Gedanken und Regungen zu erwecken, die man selbst bei sich hat."
Wie das geschehen kann, erläutert Andreas Friedrich Hallbauer zur gleichen Zeit folgendermaßen: "Aller Nachdruck der Worte muss auf nichts anders gerichtet sein, als die verborgenen Triebe, welche die Natur in das Herz der Menschen gelegt hat, zu bewegen […] Daher gibt ein guter Redner fleißig Achtung, was die Natur thut, wenn sie nicht zurück gehalten und gehemmet wird." Die Wahrheit zu verbreiten und das Denken zu befördern, wird als wesentliches Ziel der Redekunst benannt. Doch geht es hier nicht in erster Linie um Wahrheit im Sinne einer Entsprechung von Sprache und Welt. Die Wahrheit zu verbreiten und zum danken anzuregen, wird vielmehr als eine Form des ‚movere' gefasst. Es geht darum, mit Hilfe der Sprache eine innere Bewegung, eine innere Anschauung auszulösen, und diese Performanz der Affektion unter das Primat der Wahrheit zu stellen. Was ist das, innere Anschauung? Haben Sie gerade eine? Oder gibt es hier zu viel zu sehen? Auf dem Spiel steht hier nichts anderes als das Hauptmotiv des heutigen Abends, Denker - birth of nature. Denn möglich wird eine solche Affektion im Zeichen der Wahrheit nur, insofern eine natürliche Anlage zur Erkenntnis vorausgesetzt wird, die dem Redner und seinem Publikum gemeinsam ist und die durch die Rede gewissermaßen in dieselbe Schwingung versetzt werden soll. Wahr ist die innere Bewegung, die innere Anschauung, die die philosophische Rede auslöst, insofern sich in ihr die natürliche menschliche Anlage zur Erkenntnis entfaltet. In diesem Sinne tendiert die Kunst des philosophischen Vortragens von Beginn an dazu, Affektion und Selbstaffektion in eins fallen zu lassen.
 

 
Dies zeigt sich auch in jenen Theorien des Vortrags, die die frühe philosophische Oratorie um 1800 fortschreiben. Zwar beziehen sich die entsprechenden Autoren - Fichte, Schelling, Humboldt und Schleiermacher sind darunter - nicht mehr explizit auf die rhetorische Tradition. Dennoch installieren sie eine bisher viel zu wenig beachtete Theorie des Vortrags im Zentrum dessen, was als Humboldtsches Modell der Universität Geschichte geschrieben hat. Und sie alle setzen dabei den Akzent auf jenes Geschehen, in dem der Redner sein inneres Beteiligt-Sein am Gegenstand seiner Rede zum Ausdruck bringt und diese Anteilnahme auf sein Publikum überträgt. Die philosophische Rede kann, darin war man sich einig, nur dann erfolgreich sein, wenn der Redner den Gedanken, um dessen Vermittlung es ihm geht, nicht nur ergriffen hat, sondern zugleich von ihm ergriffen ist. Fichte deklamiert in seinen Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten: "Nur das unmittelbar lebendige Denken belebt fremdes Denken und greift ein in dasselbe." Und es folgt aus dieser von dem akademischen Lehrer zu fordernden Gewandtheit noch eine neue Forderung an ihn, diese, dass seine Mitteilung stets neu sei und die Spur des frischen und unmittelbar gegenwärtigen Lebens trage.
Auf diese Weise kommen Meditatio und philosophische Rede auf der Szene einer mitgeteilten Introspektion zur Deckung, sodass sich in der Konstellation Vortragender/ Publikum jene Szene einer sich selbst beim Denken zuschauender Vernunft wiederholt und bestätigt. Insofern der Vortrag das Denken in actu vorführt und damit zugleich zum Denken verführt, ist er nichts anderes als eine ‚Performance Denken'. Dass diese um 1800 Konjunktur hat, fügt sich in eine allgemeinere Entwicklung, die immer wieder als Verzeitlichung des Wissens beschrieben worden ist. Ernst Cassirer formuliert in seiner Philosophie der Aufklärung: "Das gesamte 18. Jahrhundert fasst die Vernunft […] nicht […] als einen festen Gehalt von Erkenntnissen, von Prinzipien, von Wahrheiten [sondern] vielmehr als eine Energie, als eine Kraft, die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig begriffen werden kann."
Der frei gehaltene wissenschaftliche Vortrag erscheint als die angemessene Darstellungsform für dieses verzeitlichte Wissen. Zugleich ist er aber auch transformative Gestalt einer sich verzeitlichenden Rhetorik. Seit der Antike ist immer wieder auf die immense Bedeutung der praktischen Ausführung der Rede hingewiesen worden. Cicero stellt fest, dass der Erfolg einer Rede stehe und falle mit der Ausführung der Rede, sei die Rede selbst noch so gut oder so schlecht vorbereitet. Die theoretische Ausgestaltung der actio stand zu diesen Bekenntnissen immer in einem Missverhältnis. Es gibt zahlreiche Regelwerke der richtigen Intonation, Mimik und Gestik, doch standen diese immer im Zeichen des aptums, des richtigen Maßes. Es ging ihnen darum, die aktuelle Präsentationsform der vorbereiteten Rede anzumessen, also darum, die Differenz zwischen der vorbereiteten und der tatsächlichen Rede möglichst klein zu halten.
Im Unterschied dazu setzen die Theorien des wissenschaftlichen Vortrags um 1800 darauf. Die Differenz zwischen Vorbereitung und Ausführung produktiv zu machen. Überhaupt schreibt Humboldt in seinem berühmten Entwurf zur Gründung der Berliner Universität: "Lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedes Mal wieder selbsttätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stoßen sollte." Und Schleiermacher pflichtet bei: "Bei keinem wahren Meister der Wissenschaft wird dies auch anders sein; ihm wird keine wiederholung möglich sein, ohne dass eine neue Kombination ihn belebt, eine neue entdeckung ihn an sich zeiht; er wird lehrend immer lernen, und immer lebendig und wahrhaft hervorbringend dastehn vor seinen Zuhörern."
Die Verzeitlichung des Wissens erlaubt es dem in der actio tradierten Potential sich im sinne einer "allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden" zu entfalten. Nicht nur die memoria wird dabei von der actio neu bewertet, gleiches gilt für inventio, indispositio und elocutio, soll doch das, was vorgetragen wird zumindest teilweise im Zuge des Vortrags gefunden und geordnet werden. So scheint die actio in Form des wissenschaftlichen Vortrags um 1800 die traditionelle Aufteilung und Reihenfolge der Rhetorik in sich aufzunehmen, aufzusaugen und aus sich heraus neu zu entwickeln. Währenddessen verwandelt sich der Vortrag selbst in ein poetisches Szenario, in ein Szenario nicht nur zur Vermittlung von Erkenntnis, sondern zur Produktion von Erkenntnis. Im freien wissenschaftlichen Vortrag findet sich damit das Ideal des Humboldtschen Bildungsmodells verkörpert. Humboldt und Schleiermacher preisen die Einheit von Vermittlung und Neuerkenntnis im freien Vortrag als Einheit von Forschung und Lehre. Gerade das Geschehen des wissenschaftlichen Vortrags zeigt allerdings, dass diese Einheit niemals einfach gegeben ist, sondern immer auf dem Spiel steht, auf einem Spiel, das von der paradoxen Logik der Evidenz gesteuert wird.
"Selbstaffektion", so formuliert Rüdiger Campe, "nutzt die rhetorische Figur der enargeia oder evidentia des lebendig präsentierenden, in der Sprache gleichsam zeigenden Vor-Augen-Stellens des Unsichtbaren, Unbelebten, oder Abwesenden. Sie ist nichts anderes als deren Anwendung durch den redenden in seinem eigenen Sprechen; der Redner setzt seine Rede selbst der enargeia oder evidentia aus"
Evidenz ist demnach eine Relation zwischen dem, wovon gesprochen wird und dem Geschehen der Rede selbst. Evident wird das, wovon gesprochen wird, dann, wenn es sich im Geschehen der Rede zugleich präsentiert und zeigt. Der freie philosophische Vortrag ist von dieser Logik umso gründlicher durchdrungen, als hier Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand dazu tendieren, in eins zu fallen. Der Vortrag produziert seine Referenzen im Zuge der Rede immer auch selbst, indem er in den zuhörenden Anschauungen hervorruft, auf die er sich bezieht und beziehen lässt. Peter Oesterreich nennt dies die "performative Deixis", die dem philosophischen Vortragen zueigen sei. Gemeint ist etwas Ähnliches wie das, was hier in diesem Moment geschieht. Mein Vortrag über den Vortrag kann als Geschehen evident oder plausibel machen, wovon ich spreche. Ebenso gut kann das aktuelle Geschehen die Thesen, von denen ich spreche, ergänzen oder konterkarieren. Aber wenn sich überhaupt keine Verhältnis zwischen der Referenz und der Performanz meines Vortrags herstellen lässt, so wird die Frage aufkommen: Wovon spricht sie da eigentlich?
Selbst dem berühmt-berüchtigten Vortragenden Fichte widerfuhr dies zuweilen. Ein Zeitgenosse gibt zu Protokoll: "Ich habe nie eine Fichtesche Vorlesung ohne eigentliche Erbauung verlassen, obwohl es mir nicht möglich wäre, das Gehörte zu referieren."
Um 1800 sahen die Vortragenden eine Garantie auf das Gelingen der Performance Denken in der natürlichen Gegebenheit der menschlichen Anlagen zur Erkenntnis. Blieb die Erfahrung der Evidenz im Zuge des Vortragens einmal aus, sahen sie den Grund dafür gerne darin, dass die Zuhörer ihr natürliches Erkenntnisvermögen nicht richtig aktiviert hätten. In diesem Fall nämlich sei, Zitat Fichte, "unser ganzes Sprechen, das Sprechen von dem reinen leeren Nichts, also selber ein leerer Schall, Worthauch, bloße Lufterschütterung und nichts weiter", eine "Oration von Nichts".
Als der Komponist und Performancekünstler John Cage eineinhalb Jahrhunderte später seinen explizit so betitelten "Vortrag über Nichts" hält, hat sich die Hoffnung aus den natürlichen Erkenntnisvermögen der Menschen Garantien wofür auch immer abzuleiten, erstmal erledigt. Entsprechend anders hält es Cage mit dem Vortragen über Nichts. Für ihn zeugt die Oration von Nichts keineswegs von einem Misslingen. Stattdessen erscheint die Bereitschaft, ja die Lust daran, über Nichts vorzutragen, gerade als Voraussetzung dafür, in eine Logik der Evidentia einzutreten, in der sich Beziehungen zwischen dem Vortragsgeschehen und en verhandelten Inhalten herstellen. Ich zitierte eine Passage, in der es Cage um die zeitliche Einteilung seines Vortrags geht:
 

 
Während ich dieses Cage-Zitat beende treten wir in die letzte Einheit des dritten größeren Abschnitts dieses Abends ein. Cage lässt das, was er über die Struktur als Prinzip seiner Komposition sagen will, in der Struktur seines Vortrags evident werden und streicht damit jene paradoxe Logik der Evidentia heraus, die in der Angabe wissenschaftlichen Vortragens immer schon vorhanden ist. Will man den Vortrag als wissenspoietisches Szenario, als Labor der Erkenntnis wahrnehmen und nutzen, gilt es der Performanz des Vortrags, der Performance Vortrag gegenüber dem, was man heute ‚conten' zu nennen pflegt, eine Chance zu geben. Auf überraschende Weise evident wird das, wovon die Rede ist, unter Umständen gerade dann, wenn man sich nicht ausschließlich daran festhält, was vorzutragen ist, ja, wenn man stattdessen im Extremfall bereit ist, über nichts vorzutragen.
Zugleich ist von Cage zu lernen, dass der einfache Gegensatz zwischen dem frei und dem nicht frei gehaltenen Vortrag für dieses Vorhaben nicht mehr taugt. Um 1800 stand der freie Vortrag für eine freie Entfaltung der natürlichen Erkenntnisvermögen. Demgegenüber muss es heute, unter Bedingungen gesteigerter Kontingenz darum gehen, die performative Ebene des Vortragens gezielt zu markieren und zugleich als eine Art Zufallsmaschine zu installieren. Das kann geschehen, in dem man vor Beginn des Vortrags die ungeraden Seiten aus dem Manuskript entfernt oder indem man einen Vortrag verfremdend in Szene setzt, sodass sich überraschende Interferenzen zwischen dem Vortrag und seiner ungewohnten raum-zeitlichen Rahmung ergeben, wie dies, wenn wir glück haben, heute Abend geschieht. Dann können wir uns darüber freuen.
Leider wird der Vortrag in der gegenwärtigen Praxis der Humanwissenschaften zu selten als wissenspoietisches Szenario wahrgenommen und kultiviert. Wer weiß, warum? Sicher ist der enorme Legitimationsdruck, unter den die Natur- und Geisteswissenschaften geraten sind, keine gute Voraussetzung für Experimente. Umso wichtiger ist es, dass die Performancekunst der Wissenschaft zuweilen zu Hilfe eilt, damit sie sich als Performance Denken wiederfinden und erneuern kann.
 
Denker A, Thomas Kisser, spricht 2 Minuten zu Denker C:
 
Am Beginn von "Faust" sitzt Faust bekanntlich in der alten Universität, und er leidet furchtbar, denn die alte Universität vor 1800 zeigt sich für Faust als eine Art Grab. Folgerichtig fehlt ihm auch das erste Wort, das er eigentlich sprechen müsste, nämlich das Wort "ich". Fichte beginnt seine Vorträge mit den Sätzen: "Meine Herren" - es waren wohl wenig Damen da - "Meine Herren, denken Sie die Wand und dann denken Sie den, der die Wand denkt, denken Sie sich selbst." In der Tat ein epochaler Umbruch, und ich möchte mich auch bedanken für den Vortrag der Denkerin C über dieses Aufzeigen dieses Umbruchs. Dass bei einem Vortrag etwas geschieht zwischen dem Vortragenden und denjenigen, die zuhören, das ist wohl unser aller Ideal. Vielleicht kann man das den philosophischen Eros nennen, der dabei passieren soll. Es soll eben etwas geschehen. Aber es gibt dabei ein Problem. Man muss lernen, im eigenen Namen zu sprechen. Aber das muss man paradoxerweise auch lernen. Es geht nicht von selbst. Und deswegen, eben deswegen, nimmt der philosophische Vortrag wohl die Form an, von der wir jetzt gehört haben, und die wir weiter üben wollten, auch wenn wir dies heute unter erschwerten Bedingungen tun, zweifelsohne wegen der Legitimationsprobleme, die Denkerin C auch erwähnt. Es ist unsere Aufgabe, im eigenen Namen zu sprechen, aber das muss man erst lernen.
 
Denker D, Ulrike Landfester, spricht 2 Minuten zu Denker C:
 
Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden ist heute und war schon um 1800 nicht so einfach, wie Kleist das hingeschrieben hat. Der eine markante Unterschied aber, der vom Vortrag der Denkerin C umspielt, wenn auch nicht ausformuliert wurde, ist, dass, wenn wir heute auf der Bühne des Wissenschaftstheaters in unserem Namen sprechen, dann tun wir das unter ganz anderen institutionellen Bedingungen. Im 18. Jahrhundert stand ein Hut, der Hut des Professors, vorne am Pult. Da musste in diesen Hut Kolleggeld entrichtet werden. Und je besser die Performanz des Denkens war, desto größer war der Betrag, den der Professor mit nach Hause nehmen konnte. Würde das heute so gehandhabt werden, besteht kein Zweifel, dass ein Großteil - ich will mich nicht in prozentualen Spekulationen verlieren - dass ein Großteil der Hörsäle nach wenigen Sitzungen leer stünde. Es ist sicherlich nicht zufällig so, dass die Technik des Vorlesung Haltens an den Universitäten nicht gelehrt wird. Wenn Sie als Universitätswissenschaftler Reden lernen wollen, dann gehen Sie zur Bavaria-Filmtour und machen Sie eine Bavaria-Filmtourführer-Ausbildung, aber gehen Sie nicht in die Universitäten und verlangen Sie dort, dass Ihnen beigebracht wird, wie Sie etwas vermitteln. Dass das trotzdem funktioniert, weist auf einen Punkt hin, der mir bei den Vorträgen der Denker A und B sehr nachdrücklich aufgefallen ist, dass es das reine Denken schon deswegen nicht geben kann, weil das Denken immer in der Rethorizität der Begrifflichkeit befangen ist, in der es sich ausspricht. Ein Denken ohne Begrifflichkeit ist ein stummes Denken.
 
Denker B, Günter Zöller, spricht 2 Minuten zu Denker C:
 
Es wäre außer dem Begriff der Oration auch der des Diskurses in diesen Kontext zu bringen, der etwa als der französische Ausdruck ‚discours' fast schon dieselbe Bedeutung hat wie oratio vom Lateinischen her für Rede. Von dort her wäre eine Anzeige zu gewinnen auf einen eher inneren als den hier hauptsächlich in den Vordergrund gestellten äußeren Sinn des Redens, sodass neben den Aspekt der Performanz dann auch wieder der inhaltliche Aspekt des Vortrags treten kann, insbesondere wo es um den philosophischen Diskurs, die philosophische Oration hier geht, auch das Anliegen der Philosophie Wahres zu sagen zumindest um das Wahre zu sagen sich zu bemühen. Das Performative wäre dann wieder zu ergänzen um das Veritative. Und schließlich wäre zu bedenken, dass die hier vorgestellte Mündlichkeit der Vorträge eine fiktive Mündlichkeit ist. Es handelt sich um einen sorgsam vorbereiteten Vortrag, für den in den meisten Fällen nicht nur Notizen, sondern durchformulierte Texte den Vortext bieten, der dann in freier Entwicklung in einem dramatischen Moment vorgetragen wird, aber nicht so, als entstünde nun tatsächlich erst das Denken in diesem Moment. Kleists berühmte Abhandlung redet ja auch nicht vom Denken, sondern vom Gedanken.
 
Denker C, Sibylle Peters, spricht 1 Minute:
 
Von Kleists berühmter Abhandlung kann man auch lernen, dass die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden oft schief geht. Sie ist keineswegs immer von Erfolg gekrönt. Insbesondere in der akademischen Prüfungssituation, die Kleist schildert, funktioniert das mit der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden gar nicht. Und deshalb ist es klar, dass man dazu neigt, in schwierige Situationen gut vorbereitet und mit einem Manuskript hinein zu gehen. Ich denke dennoch, dass es diese Praxis des freien Vortragens und während des Vortragens etwas Entwickelns gibt und vor allem, dass es sie gegeben hat, im 19. Jahrhundert häufiger als zu unserer Zeit, was aber nicht bedeuten soll, dass ich der Meinung wäre, wir müssten unbedingt zu diesem Ideal des freien Vortrag zurückkehren. Wir müssen das aktualisieren...


 
(3. Fase Ende)
 
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