
"...und morgen die ganze Welt"

28 Stunden lang Performance: Ist das Kunst? Oder ein Fall fürs Buch der Rekorde? Alexeij Sagerer wird es in der Reithalle ausprobieren
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Alexeij Sagerer sperrt Menschen ein, das darf er nämlich, als Künstler. Und Schafe. Was sagt überhaupt der Tierschutzverein dazu? Fotos: Petra Schramek
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Der Film heißt einfach "Größter Film aller Zeiten". Über die Dauer von 28 Stunden entsteht er in einem geschlossenen metallischen Architektur-Kubus, der vierzehn Menschen und sieben Schafe beherbergt, versorgt mit allem Lebensnotwendigen. Der Film, abgekürzt "Gröfaz", wird auf eine Großleinwand und etliche Monitore in der Reithalle übertragen. Hier findet am 18. und 19. Oktober Alexeij Sagerers neuester Theaterstreich "...und morgen die ganze Welt" statt. Als einmalige Aufführung im Rahmen des Festivals SPIEL.ART. Das Publikum streunt, strömt, sitzt, trinkt oder döst auf zwei Ebenen rund um den Kubus. 28 Stunden lang.
Wer einen kultiviert verrätselten Marathon erwartet, hat wenig begriffen von der eigensinnig autarken Welt von Sagerers "unmittelbarem Theater". Im Hirn des proT-Riesen, zu dem sich der Mann aus Plattling spätestens mit dem über vier Jahre fortgeführten "Nibelungen & Deutschlandprojekt" auswuchs (1992 bis 1995), sprudeln die Ideen wie in einer unterirdischen Fontäne.
Alles fügt sich zu allem, das Irrationale gehorcht einem rationalen System, strukturiert von den magischen Zahlen 7 und 4. Wen wundert's, daß sich aus 4 mal 7 schlüssig die 28 Stunden des neuen Projekts fügen? Und wer die Schafe zählt, landet einen Treffer. 7 naturgemäß. Bei den Vorbereitungen entdeckte Sagerer ganz nebenbei, daß er vor exakt 28 Jahren das Ur-proT im Keller an der Isabellastraße eröffnete. Zufall? Der damals wüste Avantgardist setzt ein Triumphlächeln auf. "Die Sieben ist eine offene Zahl, mit der kann man immer weiterarbeiten." Sie widersetzt sich geschlossenen Ordnungen, sie integriert Chaos, Dynamik, Unvorhergesehenes. Das ist der Stoff von Sagerers Theater.
Zurück zum Kubus (11 Meter = 7 plus vier, logisch!), zum "Gröfaz". Sagerer sagt: "Der Kubus ist das Geschehen in diesem Raum". Eine Energiequelle mit unsichtbarem, nach draußen projiziertem Innenleben. Rund um den Kubus finden, jeweils im Vier-Stunden-Takt, künstlerische Aktionen aus den unterschiedlichsten Kunstbereichen statt. Parallel zum Film im Kubus, nach streng programmiertem Ablauf, denn sonst, so Sagerer, "wäre es ja eine einfache Multimedia-Veranstaltung."
An den Live-Aktionen nimmt das Publikum direkt teil, die Entstehung des Films im Würfelinneren erlebt es mittelbar. Die Fluktuation der Zuschauer ist Teil der Performance. "Die sieben Außenschalen", so nennt Sagerer die Aktionen, stehen in geheimer Beziehung zum Geschehen im Kubus. Das Bild von vielen kleinen Schachteln in der Großen Schachtel läßt sich umkehren.
Seit der dreiteiligen "Götterdämmerung" im Marstall 1995 traut man Sagerer, Träger des Münchner Theaterpreises, das zu: Einen Kosmos theatraler Ereignisse zu entwerfen, die im landläufigen Sinn keiner inhaltlichen Marschrichtung folgen. Er sagt es so: "Für mich ist es schön, die Utopie eines Weges zu haben, nicht die Utopie einer endgültigen Vorstellung."
Die 7 Live-Sequenzen spiegeln künstlerische Ansätze aus unserer Medien- und Kulturvielfalt. Welteroberung? Ganz anti-nibelungisch diesmal. Es beginnt mit der Klangperformance "Blech" für dreißig sich allmählich reduzierende Bläser, gefolgt von der vierstündigen DJ?"Club area" mit dito Sound. In den Vor-Morgenstunden setzt die Wachs-Performerin Nina Hoffmann einen meditativen Kontrast. Ab 8 Uhr sonntagfrüh heißt's hallo, aufwachen! Mit "Kindern in Strömen". Die Aktion gestaltet Schauburg-Chef George Podt mit echtem Kinderzuschauervölkchen.
Den Schluß setzt die Berliner Modeperformerin Lisa D. mit "Knautschzone".
Welche Rolle spielen die Schafe im "Größten Film aller Zeiten", Herr Sagerer? Einfach wie der Herrgott selber spricht er: "Sie produzieren einfach Schaf, keine andere Bedeutungsebene. Sie können ohne Probleme 28 Stunden nur Schaf produzieren."
O selige Schafsnatur! Wie diese wird die Filmmannschaft sie selbst sein dürfen - oder müssen. Sie sind Darsteller und Macher zugleich: Sagerer der Obermacher und "Expeditionsleiter", Kameramänner, Bildregisseur, Bildmixer, Tonmänner, Musiker, Tänzerin und Schauspielerin; zwei Menschen am Internet. Der Film ist das Medium, ist - das kompliziert einfache Leben.

Alexeij Sagerer: "Für mich ist es schön, die Utopie eines Weges zu haben, nicht die Utopie einer endgültigen Vorstellung."
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Während des Gesprächs ist Sagerer noch am Grübeln. Die Organisation drumrum ist geregelt, die auf rund 400 000 Mark geschätzte Finanzierung ist durch Koproduzenten (Marstall, SPIELART, Stadt-Forum) halbwegs gesichert. Jetzt ist er angekommen im Zentrum seines Spektakels. Da gibt's offene Fragen und das Risiko der Utopie. 28 Stunden eingekastelt im Riesenwürfel und keine ordentliche Vorgabe zum Festhalten? Sagerer: "Wir werden das Problem des freien Existierens nicht durchhalten." Schlafenwollen oder, pardon, aufs Örtchen gehen? Sagerer ungerührt: "Prinzipiell ist alles filmbar."
Ingrid Seidenfaden
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