kulturvollzug, Mittwoch, 29. Februar 2012 Weisses Fleisch, Muffathalle München Alexeij Sagerer mit "Weißes Fleisch" in der Muffathalle: Entsetzen und Eros bei einer magischen Aufführung 20.28 Uhr. Einlass Muffathalle zu Alexeij Sagerers neuester Produktion "Weißes Fleisch". Wie sich später erschließen lassen wird, sind zu diesem Zeitpunkt bereits vier Sagerersche Zeiteinheiten verstrichen, nämlich seit 20.00 Uhr. Die nun vor Publikum weiter zu verfolgende Transsubstantiation, der die Zuschauer in einer dünnen Stuhlreihe an der Wand aufgereiht folgten, wird am Ende mit Black Out nach 84 Minuten geendet haben, nach zwölf Einheiten eines weißen Sagerer-Zyklus'. Der finale Black Out, normalerweise eine sichere Methode, den Applausreflex auszulösen, hatte tatsächlich versagt. Alexeij Sagerer wird es jedoch für sich verbuchen, wenn das Publikum in großen Teilen perplex, entsetzt war. - Entsetzt nämlich der Bedeutungsüblichkeit, der hermeneutischen Alltäglichkeit oder - anders gesagt - unter dem Eindruck des Unmittelbaren. Sagerer hatte wieder einmal die Usancen des Kultürlichen gründlich auseinander genommen, aber nicht als Berserker, sondern als Kompositeur. In die Aufschlaggeräusche mischt sich der höhere vibrierende Ton eines anfahrenden Motors wie eine orangene Säule. Aus dem rückwärtigen Dunkel neben der stummen Nackten fährt jetzt wie in einer Prozession ein Stapler in den Raum: In seinen Gabeln hängt der abgetrennte Kopf eines Pferdes über seinen mächtigen Körper. Aufschlaggeräusche, Motor, Flaschenzüge, Rückkopplungen, Knochensägen instrumentieren die Szene einer Wandlung. Pferd und Frau behaupten den Hieros Gamos, die heilige, chymische Hochzeit. Die sexuellen Wurzeln des Religiösen, die Einheit der Gegensätze. Dann ist das Opferpferd im Innersten des Tempels. Es wird zerlegt in sechs Teile. Und der siebte ist sein Kopf! In solcher Zerstücklung wird ein atavistischer Fruchtbarkeits-Ritus sichtbar. Pars pro toto. Das Fleisch erfährt nun seine finale Wandlung. Zwei Arbeiter in Blaumännern, um im Bild zu bleiben, Akolythe, Liturgiehelfer, bestreichen das Fleisch mit weißer Wandfarbe, tauschen es in die schwarzen Bottiche. Am Schluss hängt weiß allein der Kopf des Pferdes wie ein mysteriöser Gott und Iphigenie badet im Blut. Den nun folgenden Black Out konnte eigentlich niemand missverstehen. Um im Bild zu bleiben: Auch nicht die während dieser magischen Aufführung, Kindern in der Kirche gleich, babbelnden Zuschauer. Veröffentlicht am: 29.02.2012 MICHAEL WÜST |