SZ, Dienstag, 15. Dezember 2009, Münchner Kultur
Voressen, Muffatwerk München
 


MÜNCHNER KULTUR 15. Dezember 2009
 
Im Zeichen der Stoa
Alexeij Sagerers „Voressen“ im Muffatwerk
 
 
Was genau tun wir, wenn wir essen? Wir vernichten Ressourcen, feuern unseren Stoffwechsel an, stillen Hunger und Sehnsüchte, wir genießen, würgen hinunter oder zelebrieren eine Mahlzeit, werden dabei sozial oder bleiben ganz pragmatisch. Alexeij Sagerer, dessen theatrales Langzeitprojekt „Operation Raumschiff“ im Dezember 2005 in eine Region vorgestoßen ist, die er „Programm Weiß“ nennt, lässt seitdem vornehmlich „reine“ Phänomene an Bord wie Licht, Berührungen oder das Trinken. In „Voressen“ hat nun der Vorgang der Nahrungsaufnahme an Sagerers Tisch Platz genommen. Genau genommen an drei Tischchen, die von farbenfrohen Lebensmitteln überquellen.
 
Drei Tarzans in Lendenschurz werden damit von drei Janes in Weiß gefüttert. Drei Kameraleute werfen Detailansichten von klebrigen Bärten, bekleckerten Bäuchen und von mit viel zu großen Messern massakrierten Melonen oder Schweinshaxen auf eine Leinwand, auf der man auch eine Frau sehen kann, die Hostien vom Körper eines nur körperlich anwesenden Mannes nascht. Diese schmerzlichen Bilder fruchtlosen Begehrens stammen live von einem unter grünen Planen verborgenen Raum im Raum, denn anders als viele seiner Vorgänger leiht sich dieser Sagerer-Abend keine Bilder von einem authentischen Anderswo. Alles, was 83 Minuten und 30 Sekunden lang geschieht, ereignet sich auf der Probebühne des Muffatwerks. Und alles ist Essen, Verschlingung, Arbeit und Demut.
 
Die Männer, die auf ihren erhabenen Stühlen wie Paschas wirken könnten, sitzen stoisch da, wie zu füllende Nahrungssäcke. Die Frauen, sich scheinbar devot kümmernd, sind sachlich Nahrung in Münder einarbeitende Erfüllungsgehilfen eines verborgenen Planes. Worin der besteht? Wer kann das wissen? Gänzlich gereinigt von Bedürfnissen und Emotionen sieht man zum ersten Mal etwas wie „nacktes Essen“. Und die gekonnt unsachgemäße Behandlung der Nahrungsmittel richtet den Fokus so deutlich auf deren Würde, wie es keine Kochshow dieser Welt je könnte.
 
SABINE LEUCHT

 
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