5. SZ, München, Pfingsten, 3. / 4. / 5. Juni 1995 Münchner Kultur
 


 
Dem Tod auf den Spuren

Was der Münchner Theatermacher Alexeij Sagerer im russischen Wolgograd zu suchen hatte

 
Diese Szene dürfte die Steppe um Wolgograd noch nicht erlebt haben: Eine stämmige Gestalt in bayerischen Lederhosen geht langsam in die karg bewachsene Landschaft hinein. Eine Videokamera filmt, wie der deutsche Siegfried mit wehenden grauen Haaren sich entfernt, immer kleiner wird, bis er sich i der Weite auflöst. Der Boden, über den der Mann in der Lederhose, der Münchner Theatermacher Alexeij Sagerer geht, gibt zwischen grünem, würzig duftendem Kraut immer wieder weiße Knochen frei, von Mensch und Tier, sowie rostenden Kriegsschrott. Einst hat sich die deutsche Werhmacht in diesem unendlichen Raum verloren, besiegt durch den Raum selbst und seine Bewohner.
 
Seit Anfang April ist Sagerer unterwegs, um für sein "Nibelungen & Deutschland Projekt" Videoaufnahmen zu machen. Schon im dritten Jahr beschäftigt sich der für sein kompromißlos "anderes Thater" berüchtigte Niederbayer mit dem Nibelungenmythos und dem wiedervereinigten Deutschland. Sieben aufwühlende Stücke sind im Rahmen dieses Theatervorhabens inzwischen aufgeführt worden. Für das Finale, die "Götterdämmerung", will Sagerer den Untergang der Nibelungen mit dem Untergang des Dritten Reiches verweben auf die ihm eigene intensive Art, die Videofilme, Performer, Installation, Musiker und die Zuschauer selbst einschließt.
 
Deshalb reiste er an sieben Orte der Welt, wo die deutsche Wehrmacht umkehren mußte oder sich verlor. Nach Tunis, in die Normandie, in das norwegische Narvik, auf Kreta, nach Sankt Petersburg. Das frühere Stalingrad, im Mai eine grüne Stadt mit fast südländischem Flair, ist sein sechstes Ziel. Abschließend folgt die Krim. Der Versuch, den zweiten Weltkrieg von seinen Endpunkten her zu begreifen, scheint typisch für Sagerers Idee eines bewegten Theater, das von außen kommt.
 
Im Wolgograder Hotel Intourist, nur einen Steinwurf entfernt von der Stelle, wo Generalfeldmarschall Paulus im Februar 1943 kapitulierte, erklärt der Theatermacher sein Konzept für die "Götterdämmerung": "Es geht darum, Situationen vor Ort zu filmen, so daß sich dabei die Frage stellen könnte, was die Deutschen da eigentlich zu suchen hatten." Alexeij Sagerer und Kameramann Christoph Virmond sind daher nicht etwa auf Szenen aus, die irgendeine These bestätigen würden. Sie filmen offen, "nomadisch", wie Sagerer es nennt, in eine Situation hinein. Da Sagerer noch an keinem der Orte gewesen ist, hat er auch keine vorgeprägten Bilder im Kopf.
 
Verblüffend für den Außenstehenden ist die unaufdringliche Art des Filmens. Die Kamera steht und filmt sieben Minuten lang eine Szene, oder sie nimmt sieben Minuten lang aus dem Auto das Leben draußen auf, so wie es gerade vorbeizieht. Die Welt lebt in den Film hinein, nicht der Film macht sich die Welt. Wenn nebenan ein Pferdefuhrwerk durch den Steppenwand zieht oder Landarbeiter am Wegesrand eine deftige russische Brotzeit einnehmen - Bilder, wo es jedem Kameramann in den Fingern zucken würde -, läßt das Sagerer kalt. Es sei denn, die Bilder würden von selbst, also authentisch in den Aufnahmewinkel der Kamera geraten.
 
Den nomadischen Bildern von Menschenmassen, Landschaften, Nacheindrücken sollen aufnahmen von deutschen Kriegsgräbern oder Grabstätten entgegengestellt werden, sozusagen das, was von den deutschen Feldzügen übriggeblieben ist. Diese werden dokumentarisch gefilmt, so etwa ein schlichtes Birkenkreuz, das einsam und irritierend in der weiten Steppe vom Tod deutscher Soldaten zeugt.
 
Auf seiner Reise ist dem 51jährigen der Wahnsinn des großdeutschen Unterfangens geradezu körperlich faßbar geworden. ""Da stehst Du in Norwegen vor einer unendlichen weißen Schneefläche, dieselbe hatten auch die deutschen Soldaten damals vor sich. Was wollten sie nur in all dem Raum?" Auch in den Weiten um Wolgograd drängt sich diese Frage quälend auf. Sagerer ist überrascht, wie präsent in Rußland der Krieg ist. "Ganz anders als in Deutschland. Im Grunde sind das alles Inszenierungen, jeden Tag seit 50 Jahren. Etwa die Wachablösung am Denkmal der gigantischen Mutter Heimat auf dem Mamajew-Hügel in Wolgograd." Zugleich erstaunt ihn die Bereitschaft zur Versöhnung. Feindseligkeit oder Ablehnung ist er auf seiner weiten Reise nicht begegnet.
 
Auch in Wolgograd betrachtet man den Deutschen eher neugierig. Der Mann mit dem weit aufgeknöpften Hemd, den locker in die Stiefel gestopften Hosen und dem irgendwie zum Pferdeschwanz gebundenen Haar ist sofort als Fremder zu erkennen. Die Umstehenden wundern sich. Warum filmt da jemand sieben Minuten lang eine sanfte Schlucht, grün bewachsen, in der sich offenbar nichts abspielt? Doch ist diese Schlucht voller Narben - überwachsene Bunkerreste und Bombenkrater. Die Erklärung, daß da ein Theatermacher aus Deutschland Videomaterial für sein Projekt sammele und darin das Echo des Krieges filme, verstehen die meisten. Verständnisvolles Kopfnicken, ob von alten Frauen mit bunten Kopftüchern, die sich an den Krieg erinnern, oder von der Jugend, die sich in den abgelegenen Dörfern langweilt.
 
Die russische Erinnerung an den Krieg ist zur Zeit überwach, aufgerissen durch die Feiern zum 50. Jahrestag des Sieges am 9. Mai. An dieses Datum hatte Sagerer bei Beginn seines Projekts 1992 allerdings gar nicht gedacht. "Ich bin mehr durch die Wiedervereinigung angeregt worden, das Nachdenken Deutschlands über seine Stärke."
 
Am geöffneten Fenster des Hotelrestaurants sitzend, bei einem Bier, das in Weingläsern serviert wird, skizziert Sagerer die verschiedenen Ebenen seines Theaterprojekts auf Papier. Es entsteht eine Art abstraktes Gemälde, verwirrend in seiner Vielschichtigkeit und doch nicht wirr. Fast so wie seine Produktionen selbst. Hinter dieser Komplexität steht der Balanceakt eines Mannes, der Theater bis an die Grenze ausreizen will. "Wieviel Vielfalt ist möglich, um Zusammenhalt zu schaffen, ohne konfus zu werden?", lautet für Sagerer die Kernfrage. Wie er diese Konsistenz erschafft und darin die sieben geschichtlichen Orte einbringt, die er als sieben Intensitäten bezeichnet, wird im September und Oktober im Marstall zu sehen sein.
 
Auf einer der ausfahrtsstraßen aus Wolgograd shcaufeln Soldaten auf einem erhöhten Mittelstreifen Grägen zu und versuchen, die Grasfläche wiederherzurichten. Sie räumen die "Kulissen" einer Aufführung ab, die zu Ehren der Stalingrader Veteranen am 9. Mai inszeniert wurde: Junge Soldaten kämpften in künstlichen Gräben und Häuserruinen die Schlachten noch einmal nach, während die mit Orden dekorierten Kämpfer von damals auf einer Tribüne saßen und zuschauten.
 
Wenn etwas klarmachen kann, was Sagerer nicht unter Theatermachen versteht, dann das. "Die Kriegsvorführung, die versucht, Prozesse nachzuvollziehen, sagt nicht über den Krieg", reagiert er fast aufgebracht auf diese Szene. "Es ist reine Simulation, die Bewegungsfäden werden in dem engen Rahmen abgeschnitten. Angesichts der Zuschauer, die das Original erlebten, wirkt die Simulation fast wie Ironie." Ihm geht es um unmittelbares, lebendes Theater - nicht um ein Theater, das leben spielt. "Wir versuchen gar nicht, den Krieg nachzuvollziehen, sondern gehen in den Raum und sehen, was von dem Damaligen nachwirkt ins Heute."
 
MIRIAM NEUBERT