2. Spiegel, Kultur Extra, Heft 10, Oktober 1997 Theater
 

 
Alexeij Sagerer

Als bayerisches Theater-Urviech macht der Alt-Avantgardist seit fast 30 Jahren von sich reden. Seine Botschaft: Es braucht keine.

 
Für den Siegfried wäre er die Idealbesetzung - groß, blond und breitschultrig, wie er daherkommt. Aber mit nur einer Rolle allein war Alexeij Sagerer, 53, noch nie zufrieden. Und so ist der Niederbayer in seinem Münchner Theater proT, das er vor fast 30 Jahren gegründet hat, Schauspieler, Stückeschreiber, Regisseur und Organisator in einer Person.
 
Der "letzte Theater-Eingeborene Bayerns" (TV-Kulturmagazin "Capriccio") gilt als einer der Erfinder des Post-68er Experimentiertheaters - und bis heute ist er dieser Avantgarde treu. Auf der documenta 1987 ließ Sagerer 25 Videomonitore Ballett tanzen; und die aktuelle Renaissance der Mythologie nahm er in seinen wilden Nibelungen-Assoziationen vorweg. Vom Urschrei bis zur Wasserschlacht, von der "Maiandacht" bis zum "Tiger in Äschnapur" (wie zwei seiner Stücke heißen) - alles ist Performance, alles ist "unmittelbares Theater". "Man muß nicht hinter die Botschaft kommen", sagt Sagerer. "Es zählt, was da ist."
 
Für sein neues Projekt, eine Koproduktion mit dem Bayerischen Staatsschauspiel, hat er in der Münchner Reithalle einen geschlossenen, metallisch glänzenden Kubus aufstellen lassen, in dem sich 28 Stunden lang 14 Personen und 7 Schafe aufhalten werden. Das Publikum verlustiert sich außen herum und kann die geschlossene Gesellschaft auf einem nach draußen projizierten Film beobachten. Die Sagerer-Sage "... und morgen die ganze Welt", egal wie improvisiert, hat ihre eigene Choreographie. 30 Blechbläser führen eine vierstündige Komposition auf, Drum'n'Bass- und Techno-DJs inszenieren einen Rave als "Maschinerie der Ekstase", eine Modeschöpferin präsentiert Entwürfe mit Gesang und Bauchtanz-Einlage.
 
Der raumschiffartige Kubus inmitten des Kommens und Gehens symbolisiert für Sagerer die Sehnsucht, "die Welt unter Kontrolle zu bringen, sie nach einer Ästhetik auszurichten". Den Mythos von der Eroberung der Welt, der den Regisseur seit der deutschen Einigung verstärkt beschäftigt, will er mit einer Tag und Nacht dauernden Premierenfeier des "größten Films aller Zeiten" verbinden - ein entschlossener "Griff in die Unterhaltungskiste".
 
Darin unterscheidet sich Sagerers Theater von allen pädagogischen und pseudopolitischen Ansätzen: Ob er einen Veitstanz in Krachledernen mit randvollem Maßkrug vollführt oder Kriemhild monologisieren läßt: "Mit einer Frau, die häßlich stöhnt, könnte mein Mann gar nicht ins Bett gehen" - der Bühnenberserker hält, was er verspricht: "Kommen Sie alle, ich werde spielen wie ein junger Gott."
 
Bettina Musall